#30 Bildet Reisen wirklich?

Zusammenfassung

Seid ihr auch Fans vom Reisen? Ich muss sagen, ich liebe das Unbekannte, und neue Dinge zu lernen! Diesen Podcast selbst habe ich tatsächlich in einem Auslandsaufenthalt begonnen! Wenn ihr auch gern reist, kennt ihr vielleicht auch den Spruch „Reisen bildet“. Und das scheint auch zu stimmen. Ich habe sehr viele neue Dinge in anderen Ländern gelernt. Aber was ist mit Leuten, die nicht gern reisen? Immanuel Kant war so jemand und er wurde ein großer Philosoph. Inwiefern braucht man die das tatsächlich? Bildet das Reisen an sich oder sind es nur einfach die Informationen, die man auf der Reise bekommt? Denn dann kann man ja auch ein gutes Buch über das Ziel lesen. Aber wenn das so einfach wäre, gäbe es diesen Ausspruch wahrscheinlich nicht, nicht wahr? Also, wie sehr hilft uns das Reisen beim Lernen wirklich? Und was kann man sich auch zuhause anlernen?                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Hallo zusammen und herzlich willkommen zurück zu der inzwischen 30. Folge von „Philosophie für zwischendurch!“


Voranmerkung

Ja ihr habt richtig gehört, 30 Folgen habe ich insgesamt seit dem 3. Oktober 2021 herausgebracht. Und diese hier ist ein richtiger Meilenstein! Und das nicht nur, weil es dir 30. Folge ist. Denn bisher war ich seit Erstellung des Podcasts immer auf meinem Auslandsjahr in Spanien, Granada. Von der Folge im Oktober bis zu der heute wurden alle hier produziert, recherchiert, aufgenommen. Doch jetzt nicht mehr. Wenn ihr diese Folge hört, bin ich bereits wieder zurück in Deutschland. Und dieser Podcast hat ziemlich Veränderungen bis zu diesem Punkt durchgemacht. Wisst ihr, in den Anfängen habe ich noch lauter Zettel an meine Wand gehängt, mit wilden Notizen zu meinen Folgen. Und bis zur Sokratesfolge habe ich das tatsächlich auch durchgezogen. Doch dann sind mir Wände ausgegangen. Deshalb sind alle Notizen seit der ersten Folge in diesem Jahr digital. Doch das sind alles Entwicklungen, die später angefangen haben: meine allererste Folge hat so etwas noch gar nicht benötigt! Erinnert ihr euch an die Folge „Warum philosophieren?“ Auf Spotify habe ich sie auch als Podcast-Trailer drin. Da hatte ich kein sonderlich festes Thema, sondern habe einfach mal geredet, was mir so eingefallen ist. Wohin dieser Podcast gehen sollte, wie ich die Philosophie sehe. Da kam mir auch zum ersten Mal der Gedanke, ein Skript zu schreiben! Ich meine klar, wie soll ich Positionen von bis zu vier Philosophinnen und Philosophen pro Folge komplett frei vortragen? Ich sag’s euch, mit Skript ist es schon schwierig genug, das fehlerfrei zu tun! Und damals auch noch ohne Mikro! 4 Folgen lang habe ich alles nur mit dem Handy aufgenommen. Die Tonqualität ist entsprechend – ihr wisst sicher, wovon ich rede, wenn ihr eine davon gehört habt. Ich hätte aber nie gedacht, dass sich trotz dieser kleinen Anfänge die Zahlen so krass entwickeln würden! Ich habe jetzt, am 3.6.2022, 8 Monate nach dem 3.10.2021: 211 Follower auf Spotify, 1104 Leute auf Spotify, die jemals in eine Folge reingehört haben, 126 Plattformübergreifende Hörerinnen und Hörer pro Woche und 3153 bisher auf allen Plattformen abgespielte Folgen aus 42 Ländern! Das ist einfach unglaublich! Wisst ihr, ganz am Anfang wollte ich eigentlich noch gar keinen Podcast aus meinen philosophischen Recherchen machen. Damals im Herbst 2020, als ich angefangen habe, mir Gedanken über den Sinn des Lebens zu machen, war das für mich. Und ich saß 5 Monate daran, mit kleinen Pausen. Später kam noch das Thema „Was können wir wissen?“ oder damals noch: „Was ist Realität?“ Und dann habe ich mir im Sommer 2021 noch den guten Menschen angeschaut. Aber all diese Dinge waren nur für mich selbst. Und erst im Herbst 2021 habe ich begonnen, davon öffentlich zu erzählen. Auch da hätte ich nie gedacht, dass einmal mehr Leute als mein Freundes- und Familienkreis zuhören. Von daher danke an euch alle, die ihr entweder seit dem Anfang zuhört, oder jetzt eingestiegen seid. Es bedeutet mir sehr viel. Wenn diese Folge herauskommt, ist die Zeit in Granada bereits vorbei. Aber keine Sorge, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer: Es hört hier natürlich nicht auf! Auch in Deutschland werde ich noch viele weitere Folgen für euch und mich produzieren, keine Frage! Auch wenn es natürlich mit dem Umzug noch etwas dauern könnte. Muss es aber auch nicht: Ich erinnere mich noch gut, wie ich am Anfang des Jahres behauptet habe, ich würde nur noch alle zwei Wochen eine Folge kommen. Und schaut, wo ich jetzt bin: Bei Folge Nummer 30! Also da lasst euch einfach überraschen.
Da diese Folge aber wie gesagt die letzte ist, die ich hier aufnehme, möchte ich meinen Aufenthalt im Ausland würdigen! 
Und zwar mit einer passenden Frage: Bildet Reisen wirklich? Eine Frage für euch und für mich: Wenn ich jetzt nach Hause gehe, habe ich tatsächlich etwas mitgenommen? Und war es dafür notwendig, hierherzukommen?


Annäherung

Ok, wie nähert man sich dieser Frage an? Ich meine, der Anfang ist ja ganz simpel: Den Spruch „Reisen bildet“ gibt es ja schon sehr lange, und er ist auch akzeptiert. Da muss also wohl etwas dran sein. Und tatsächlich: Die meisten Menschen würden sagen, dass er stimmt. Man kommt nämlich durch eine Reise in ein fremdes Gebiet, lernt fremde Kulturen kennen, fremde Sprachen und fremde Leute. Und dabei lernt man zweierlei: Zum einen natürlich alles Mögliche über das Reiseziel. Dadurch dass man sich komplett fallen lässt und eintaucht, bekommt man einen guten Einblick in die Kultur. Man lernt die Sprache, man versteht die Denkweise der Leute und die Geschichte des Ortes. Aber man lernt auch viel über sich selbst: Man macht die Erfahrung, wie es ist, eine Ausländerin oder ein Ausländer zu sein. Eine Person, die nicht so ist wie der Rest, aber sich anpasst. Ich würde sagen, dass diese Erfahrung sogar die andere überragt. Ich zumindest habe in meiner Zeit hier sehr viel über mich gelernt. Aber wie genau steht es mit diesen Erfahrungen? Könnte man nicht auch alles über die Kultur herausfinden, indem man über sie liest? Und auch die Sprache kann man ja in einer Schule oder Universität lernen. Immerhin mache ich das auch in meinem Podcast. Ich habe über Frauen gesprochen, ohne eine zu sein, über Tote, ohne dazu zu gehören und über Gott. Und selbstverständlich bin ich auch nicht er. Ist es also wirklich notwendig, etwas selbst zu erfahren, um es zu verstehen? Muss man eine Reise antreten, um etwas Neues zu lernen? Und ist es dann wirklich das Reisen selbst, das bildet, oder ist es nicht eher das Lernen? Das erinnert an das Hin und Her zwischen dem Empirismus und Rationalismus. Falls ihr meine Folge über das Wissen kennt: Da habe ich viel darüber gesprochen. Aber mit einem etwas anderen Ansatz. Damals habe ich mich gefragt, ob wir durch Sinnesorgane komplett sichere Wahrheiten über die Welt erfassen können. Aber so weit geht das hier nicht. Hier fragen wir uns: Von dem, was wir mit den Sinnesorganen wahrnehmen können, muss man es wahrnehmen, um es zu verstehen oder reicht es, darüber zu reflektieren? Denn genau das ist das Thema der Reise: Muss man selbst an einem Ort gewesen sein, um ihn nachvollziehen zu können, oder reicht es, in der Ferne über ihn zu lernen? Und muss man dann tatsächlich reisen, um gebildet zu werden?


Bildung durch Erfahrungen und Wandel

Ok, sehr viele Fragen. Vielleicht fangen wir mit einer einfachen an: Was ist denn eigentlich eine Reise? Wovon reden wir hier? Dazu gibt es ein Werk namens „Die Reise als Utopie“ von dem deutschen Philosophen Klaus Kufeld. Er sagt, dass die Idealvorstellung einer Reise die eines Abenteuers ist. Man geht in die Fremde, sammelt dort Erfahrungen, die von zuhause keiner kennt, und kehrt ein Stück weiser zurück. Reisende sind letzten Endes Globalisierer, die das Wissen der eigenen Kultur im Zielort verbreiten, und die fremde Kultur nach Hause bringen. Ganz im Kontrast zu diesem Bild steht das des Tourismus. Denn ein Urlaub ist eher eine Gelegenheit zur Flucht und Entspannung. Aber der wichtigste Unterschied zwischen den Beiden ist eigentlich das Ziel. Denn eine Reise hat keines, zumindest keinen physischen Ort. Das Ziel einer Reise ist es, gebildeter zu sein. Und das ist etwas, das erst passiert, wenn man wieder zurück ist, und die neuen Erfahrungen verwertet. Von daher ist alles, was davor passiert, also die Reise selbst, nur ein Weg. Der Urlaub dagegen hat ein sehr simples Ziel: Den Urlaubsort. Und da will man sich dann entspannen. Man kann das auch nur dort tun, und wenn man zurückkommt, nimmt man nichts außer Erinnerungen wieder nach Hause mit. Oft noch nicht einmal das so sehr. Die Entspannung ist dann auch vorbei, weil man wieder beginnen muss, zu arbeiten. Die Reise dagegen wird erst dann wirklich wertvoll. Klar macht man schon währenddessen seine Erfahrungen. Aber ein wirklich gebildeter Mensch ist man dann erst nach der Rückkehr, wenn man die neue Perspektive zur alten hinzugefügt hat.
Eine Reise ist dreifach charakterisiert: Man will von etwas weg, man reist auf eine gewisse Weise, und man hat ein bestimmtes Ziel vor Augen. Fangen wir mit dem ersten Faktor an. Was heißt es, von etwas wegzuwollen? Nun, Kufeld sagt, dass jede Reise daraus entsteht, dass man mit der momentanen Situation unzufrieden ist. Und man möchte fortgehen, um sie zu ändern. Bei einer Reise ist das ganz einfach: Man möchte etwas lernen. Man ist unzufrieden mit dem aktuellen Wissensstand, und hat das Gefühl, in der Denkweise zu eindimensional zu sein. Man interessiert sich für eine Kultur, aber findet die Information, die man darüber erhalt, unauthentisch und nicht ausreichend. Auch bei einem Urlaub gibt es das. Man flieht vor dem Stress in der Heimat. Man ist unzufrieden damit, ohne Pause zu arbeiten und geht deshalb eine Weile lang raus. Soweit also zu diesem Aspekt. Was ist mit der Art und Weise, zu reisen? Der Philosoph redet hier nicht von Transportmöglichkeiten, sondern dem Geisteszustand. Mit welcher Denkweise verlässt man das Zuhause? Bei einer Reise ist man idealerweise offen für Neues, man will ja lernen! Man ist bereit, sich komplett in die fremde Kultur fallenzulassen und darin aufzugehen. Die oder der Reisende ist hier wie eine Tabula rasa: man weiß nichts und alle Eindrücke sind neu und werden gespeichert. Klar hat man das Wissen aus der Heimat, aber das wendet man nicht im neuen Ort an. Denn es gilt dort nicht mehr. Außerdem möchte man nicht, dass es im Wege neuer Erkenntnisse steht. Ganz im Gegensatz zum Urlaub. Hier behält man das eigene Wissen im Vordergrund und denkt nicht daran, es zu ersetzen. Man grenzt sich von den Einheimischen im Zielort ab und bleibt distanziert. Einige Leute versuchen sogar, die eigene Denkweise im Ausland breitzutreten und ärgern oder wundern sich, wenn es nicht geht. Und damit kommen wir zum Ziel der Reise oder des Urlaubs, was man auch schon am Weglaufen vor den Zuständen ablesen kann. Das Ziel einer Reise ist es, mit einem erweiterten Horizont und einer neuen Perspektive zurückzukehren. Das Ziel des Urlaubs ist es, zu entspannen und die Lasten von daheim für einen Moment zu vergessen. Und man möchte dabei nichts aufgeben oder lernen: Das eigene Wissen soll bestehen bleiben, es soll anwendbar sein, und es sollen sich keine Herausforderungen auftun. Hier sieht man also wieder, dass das Ziel der Reise nach ihr erreicht wird und das des Urlaubs währenddessen.
Die Frage ist aber: Erreicht man wirklich die Bildung, die man sich vorstellt, wenn man reist? Ist es wirklich so, dass man zusätzliches Wissen erhält? Denn wenn das so wäre, warum kann man dann nicht das anwenden, was man bereits hat? Wieso muss man in den Zustand der Tabula rasa kommen? Es ist nämlich so, dass man das Wissen der Fremde auch im eigenen Land nicht anwenden kann. Genau wie die Menschen in der fremden Kultur nichts mit der eigenen Sprache anfangen können, genau so wenig können das die Leute daheim mit ihrer. Am Ende ist es doch alles relatives Wissen. Man kommt vom Ausland wieder zurück und erkennt, dass das Wissen über diese Kultur in dem Moment an Wert verloren hat, als man die Grenze überschritten hat. Aber nicht so schnell. Klaus Kufeld sagt nämlich, dass es nicht direkt darum geht, neues Wissen zum alten hinzuzufügen. Das ist der falsche Begriff. Denn es ist anderes Wissen. Eine andere Kategorie: Und zwar die der fremden Denkweise. Man lernt das Wissen der anderen Perspektive. Und das ist nicht wertlos, sondern bereichert einen. Der Philosoph sagt, der Geist wird dadurch tiefer. Man macht eben vor allem Erfahrungen: Man erfährt, wie es ist, von einem anderen Winkel aus auf die Welt zu schauen. Man lernt, wie das Wissen von dort aussieht. Doch das ist eben die Frage: Tut man das wirklich? Denn ob andere Kategorie oder nicht, es ist noch immer Wissen. Und Wissen kann man sich doch anlesen, oder? Man kann über die europäische Philosophie lesen, aber auch von der asiatischen. Da hat man doch das Wissen der anderen Kategorie! Es gibt da ein gutes Beispiel aus der Philosophie: Immanuel Kant ist während seines gesamten Lebens nie groß gereist. Höchstwahrscheinlich ist er bei allen Ausflügen noch nicht einmal aus seinem Heimatort Königsberg herausgekommen. Und trotzdem war er ein sehr weiser Philosoph, führend in der Philosophie der Aufklärung. Er hat zahlreiche Reiseberichte gelesen und geschrieben, obwohl er doch nie auf einer war! Aber erinnert euch: Eine Reise hat keinen Zielort. Alles bis zum Ziel ist nur ein Weg. Braucht es dann also eine tatsächliche Reise ins Unbekannte, oder reicht es, Schriften dazu durchzulesen? Man müsste doch alle Perspektiven auf der Welt rational erklären können! Kann man die physische Reise also tatsächlich weglassen und trotzdem gebildeter sein? Wie genau steht das Wissen zur Erfahrung?
Gut, bevor wir diese Frage klären: Was lernen wir denn jetzt eigentlich von Klaus Kufeld? Der Philosoph beginnt damit, festzulegen, was denn eigentlich eine Reise ist. Es gibt da nämlich auch Abgrenzungen, wie zum Urlaub. Während man dort nämlich unverändert kommt und geht, und einfach nur entspannen will, hat die Reise ein höheres Ziel. Hier will man tatsächlich eintauchen, Teil der fremden Kultur werden. Und warum? Um zu lernen. Um sich fremde Perspektiven und Denkweisen anzueignen, und deren Wissen. Man will sich durch eine Reise immer bilden. Und so bricht man auf, unzufrieden mit dem eigenen bisherigen Wissensstand. Um möglichst viel aufnehmen zu können, lässt man alle früheren Erkenntnisse zuhause, um eine authentische Erfahrung haben zu können. Doch ist man dann wirklich gebildeter? Denn scheinbar ist genau wie das eigene Wissen in der Fremde wertlos ist, das Wissen von dort bei sich zuhause ungültig. Hat man also nur relatives Wissen geerntet? Ja und Nein. Kufeld sagt, dass man eben anderes Wissen erworben hat, nicht einfach nur Zusatzwissen in der eigenen Perspektive. Man hat Erfahrungen gemacht. Man hat einmal mit anderen Augen auf die Welt geschaut und unter anderen Parametern gedacht. Und das ist sehr wertvoll, denn es vertieft den eigenen Geist. Das ist genau das, was man unter Bildung versteht. Doch auf der anderen Seite ist es noch immer Wissen, wenn auch einer anderen Kategorie. Und Wissen kann man sich auch durch Bücher aneignen. Es stellt sich also die Frage: Muss man dazu wirklich reisen? Der Philosoph Immanuel Kant hat das nämlich nicht getan. Und wir haben außerdem auch schon geklärt, dass das Ziel einer Reise kein Ort, sondern ein Zustand ist. Braucht es also direkte Eigenerfahrungen, oder kann man genau dasselbe Wissen auch aus Schriften ziehen?


Wissen aus Wahrnehmung und Denken

Zu diesem Thema gibt es einen schönen platonischen Dialog namens „Theaitetos“. Darin spricht Sokrates mit dem Mathematiker Theodoros und vor allem dessen Schüler Theaitetos. Und die Frage, die sich Sokrates stellt, ist genau die, die wir uns gerade stellen: Was ist eigentlich Wissen? Theaitetos argumentiert dafür, dass Wissen nichts anderes als Wahrnehmung ist. Damit nimmt er die Position des Protagoras ein, den Platon hier eigentlich tatsächlich adressiert. Wenn ihr meine Folge zu den Vorsokratikern schon gehört habt, kennt ihr seine Meinung auch schon. Ja und ich weiß, sehr typisch wieder für Platons Dialoge: Er lässt jemand anderen seine Position gegen jemanden vorbringen, der wiederum für eine andere Person spricht. Aber was sagt Theaitetos jetzt eigentlich genau? Er meint, der Mensch sei in der Erkenntnistheorie das Maß aller Dinge. Denn was der oder die Einzelne wahrnimmt, das wäre auch für diese Person wahr. Aber auch nur für sie. Denn wenn jemand anders eine andere Wahrnehmung hat, ist diese auch wahr. Und gleichermaßen ist auch alles falsch, was man nicht wahrnimmt. Eine subjektivistische Position: Es gibt nach dem Philosophen keine objektive Wahrheit, sondern nur subjektive wahre und relative Meinungen. Ein Beispiel: Wenn ein Wind weht, kann er für eine Person kalt und für die andere warm sein. Und hat dann eine davon recht und die andere Person unrecht? Das kann ja nicht sein, denn beide nehmen den Wind wahr, wie sie ihn wahrnehmen. Also muss beides stimmen. Er kann aber nicht gleichzeitig objektiv warm und kalt sein. Deshalb kann es keine objektive Wahrheit geben. Und daher müssen alle subjektiven Eindrücke für das Subjekt wahr sein. Eine feste Wahrheit kann es auch deshalb nicht geben, weil sich die ganze Welt stetig verändert. Das ist eine Annäherung an die Position des Heraklit, den ich auch in meiner Folge zu den Vorsokratikern erwähne. Aber er sagt im Grunde, dass nichts auf der Welt jemals ist, sondern immer wird. Alles befindet sich im stetigen Wandel, und so auch die Wahrheit. Die Wahrnehmung ist daher der einzige Indikator: Und zwar zeigt sie uns etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort auf eine gewisse Weise war. Aber das ist alles, was wir über die Welt wissen können.
Doch Sokrates oder Platon argumentieren dagegen. Denn es gibt durchaus Dinge, die immer gleichbleiben: Die Mathematik zum Beispiel! Genau das, in dem Theodoros und Theaitetos ja eigentlich Profis sind. 2 mal 2 wird immer 4 ergeben, egal wo man ist. Und auch sonst stehen gewisse Dinge fest. So sagt Sokrates, dass es selbst nach der Theorie des Theaitetos drei Dinge geben müsste, die immer wahr sind. Erstens: Alle Dinge sind am selben Ort zur selben Zeit mit sich selbst identisch. Logisch, oder? Selbst wenn sich alles verändert, muss während dieser Veränderung immer alles mit sich selbst gleich bleiben. Zweitens: Alle Dinge ändern sich stetig, wie Theaitetos gesagt hat. Egal, wer was wahrnimmt, wenn man dieser Theorie folgen will, müsste das immer wahr sein. Und drittens: Es gibt Dinge, die nie geworden sind und daher nicht existieren. Und diese Dinge können damit nicht wahrgenommen werden, egal von wem. 
Und jetzt die Frage: Wenn diese Dinge feststehen, wie stehen sie dann zu dem Wissen, das nicht feststeht? Es scheint hier ja ganz offenbar zwei Kategorien zu geben. Und sie widersprechen sich. Es gibt Menschen, die der Meinung sind, Dinge zu sehen, die nicht existieren. Und dann ist das eben eine falsche Wahrnehmung, weil es dem dritten Punkt widerspricht. Offenbar gibt es also tatsächlich objektives Wissen, das konstant ist. Und alles, was wahrgenommen und erfahren wird, ist entweder wahr oder falsch. Und das muss auch so sein. Denn wenn es keine objektive Wahrheit gäbe, wer könnte die Theorie des Protagoras oder Theaitetos bestätigen? Es hätten doch alle Menschen auf der Welt genauso sehr recht wie sie! Es gäbe gar keine Berechtigung mehr für Personen, die sich scheinbar mehr in einem Fach auskennen. Und außerdem passieren auch Dinge, während wir sie nicht wahrnehmen. Wenn wir kurz vor dem Regen die Augen verschließen, zum Beispiel. Man könnte ihn noch immer sehen, wenn man will. Wir spüren ja auch noch, dass er da ist. Und Dinge in der Zukunft können wir nur durch Vernunft und nicht durch Wahrnehmung vorhersagen. Denn sie sind noch nicht passiert. Die Informationen, die wir durch die Wahrnehmung erhalten, sind von einer sich ständig verändernden Welt. Sie zeigt uns, wie die Dinge gerade erscheinen. Doch nur weil sie auf eine gewisse Weise erscheinen, müssen sie nicht momentan so sein. Und es ist die Aufgabe der Wissenschaft, den Unterschied zwischen Schein und Sein aufzudecken. Und damit haben wir: Die Meinung, die aus der Wahrnehmung entsteht und wahr oder falsch sein kann. Und das Wissen, das die wahren Meinungen betrifft, und aus der Überlegung entsteht. Denn während Wahrnehmung ein Produkt der Sinnesorgane ist, kommt das Wissen aus der Seele. Oder in heutigen Begriffen, dem Gehirn. Also in diesem Fall.
Ok, was lernen wir von Platon und Protagoras? Protagoras sagt über Theaitetos, dass es keine objektive Wahrheit gibt. Alles, was wir haben, sind subjektive Eindrücke über die Welt. Und da wir bei denselben Erscheinungen unterschiedliche Wahrnehmungen haben, kann es nichts Objektives und Konstantes geben. Das liegt auch daran, dass sich auf der Welt immer alles verändert. Aber Platon argumentiert über Sokrates dagegen. Es gibt durchaus einige Dinge, die feststehen: Mathematische Fakten, dass alles mit sich selbst gleich ist, dass alles sich verändert, und dass es nichts gibt, was es nicht gibt. Es scheint also Aussagen zu geben, die unabhängig von jeder Wahrnehmung immer wahr sind. Und von daher können Wahrnehmungen nur entweder wahr sein und dem entsprechen, oder falsch. Das macht sie zu Meinungen, denen man nicht komplett vertrauen kann. Denn sie sind subjektiv. Jedoch gibt es eine objektive Ebene. Und in der liegt das Wissen.


Bildung aus Rationalem und Empirischem

Gut, jetzt könntet ihr euch fragen, was das eigentlich noch mit dem Reisthema zu tun hat. Lasst es mich euch erklären. Unsere Frage war, ob man durch rationale Überlegung alles auf der Welt herausfinden und sich komplett bilden kann, oder ob man dafür Erfahrungen braucht. Muss ich tatsächlich bis nach Spanien gereist sein, um die Kultur zu verstehen, oder hätte ich mir das einfach anlesen können? Und hier haben wir zwei sehr extreme Theorien: Protagoras sagt, dass nur die Wahrnehmungen, die ich mache, wahr sind. Nur die Erfahrungen zählen. Es ist also egal, was andere Leute über diesen Ort geschrieben haben, solange man ihn nicht mit den eigenen Augen gesehen hat. Denn nur dann versteht man wirklich, wie es ist, dieser Kultur anzugehören, oder wie sie denken. Wie es sich für andere anfühlen mag, weiß man nicht, denn man hat nur ein Paar an Sinnesorganen. Alles, was man für seine Weiterbildung also tun kann, ist, so viel zu reisen und zu tun wie möglich. Alle Erfahrungen selbst machen, nichts einfach nur nachlesen. Denn nur man selbst ist eine verlässliche Quelle für die eigene Wahrheit. Man muss sie selbst finden, weil andere nur von ihren eigenen Erfahrungen schildern können. Es gibt keine objektive Wahrheit. Platon würde aber sagen, dass genau das Gegenteil wahr ist. Es ist ja schön, wenn man selbst vor Ort ist und sich die Dinge anschaut. Und es gibt auch eine Chance, dass man einen authentischen Eindruck bekommt. Aber es ist nicht garantiert. Man kann sich nicht auf das verlassen, was man selbst wahrnimmt. Vielleicht versteht man einige Dinge dort falsch, oder verwechselt die Kultur. Wenn man sie dagegen studiert und sich auf objektive Fakten verlässt, erfährt man alles, was man wissen muss. Es ist nicht nötig, dort zu sein. Denn es gibt nichts, was einem die Sinnesorgane zeigen könnte, was man sich nicht auch rational darlegen könnte. Denn es gibt eine objektive Wahrheit. Irgendwo da draußen ist das ganze Wissen über diese Kultur gespeichert, und es ist wahr. Wenn man das also herausfindet, muss man nicht dort gewesen sein.
Also, was machen wir jetzt? Wir haben den Subjektivisten Protagoras, der meint, dass unser Wissen wertlos ist, bis wir nicht selbst an den Ort gereist sind. Und wir haben den, zwar nicht Objektivisten, aber Rationalisten Platon, nach dem wir nicht dorthin müssen, es am besten überhaupt nicht tun. Ich denke, es ist Zeit für einen letzten Philosophen, um diesen Streit zu schlichten. Es geht um den Australier Frank Jackson. Er bringt zu diesem Thema ein Beispiel in seinem Werk „What Mary didn’t know“. Das der Wissenschaftlerin Mary. Mary befindet sich seit ihrer Geburt in einem komplett schwarz-weißen Raum, der angefüllt ist mit schwarz-weißen Büchern und einem Fernseher, der auch keine Farbe zeigt. Aber keine Sorge, Mary wird in diesem Raum nicht gefoltert, sondern sie lernt. Jahrzehnte lang liest sie Bücher, schaut Dokus, bis sie eines Tages das gesamte Wissen über die Welt hat. Alles, was bekannt und aufgeschrieben ist, zumindest. Sie weiß von allem, wie es physikalisch funktioniert, wie es aussieht, und welche anderen Eigenschaften es hat. Und – und darauf ist der Hauptfokus – sie lernt alles über Farben. Sie weiß, welche Farben es gibt, wie sie sich im Farbspektrum ergeben, was welche Farbe hat und wie das Licht fallen muss, um sie zu erzeugen. Nur hat sie diese Farben eben nie gesehen. Doch eines Tages verlässt sie dann schließlich den Raum, um die Welt mit den eigenen Augen zu sehen. Und jetzt die Frage: Lernt Mary durch diese Erfahrung etwas Neues? Platon würde sagen: Nein. Sie hat ja das ganze Wissen über die Welt schon in ihrem Kopf. Sie dürfte noch nicht einmal sonderlich überrascht sein, wie alles aussieht. Protagoras dürfte dagegen behaupten, sie würde erst jetzt wirklich etwas erfahren. Davor hätte sie nur Berichte über andere, für sie falsche Sinneswahrnehmungen gelesen.
Frank Jackson aber schlägt die Brücke, indem er sagt, dass sie tatsächlich etwas Neues lernt. Das heißt aber nicht, dass sie nicht schon etwas Nützliches gewusst hätte. Denn die wissenschaftlichen Fakten über die Welt sind noch immer wahr. Es gibt eine objektive Wahrheit. Und dass reife Tomaten normalerweise rot sind, gehört dazu. Dennoch lernt Mary dazu, indem sie diese Tomaten selbst sieht. Sie wusste vielleicht, dass die Farbe existiert und wie sie entsteht. Aber sie hätte sich nie vorstellen können, wie sie aussehen soll. Kein reiner Fakt kann einem sagen, wie „rot“ aussieht. Oder wie würdet ihr das einer farbenblinden Person erklären? Doch hier kann man einhaken: Wenn Mary also nicht wusste, wie rot aussieht, hat sie dann doch nicht alles gewusst? Die Prämisse ist, dass sie das ganze Wissen über die Welt hatte. Hat sie dann doch noch nicht alles gelernt? Nun, ja und nein. Sie erhält tatsächlich neues Wissen. Aber es ist von einer anderen Art. Sie lernt weder, was Farben sind, noch, wie sie entstehen oder was welche hat. Was sie lernt, sind Erfahrungen. Und das ist kein rationales Wissen. Erfahrungen hätte ihr keines der Bücher geben können. Es ist kein Wissen, dass, sondern ein Wissen, wie. Man sieht also, dass es ebenso Erfahrungen wie rationales Denken braucht, um alles Wissen auf der Welt erfassen zu können. Mary wusste schon ziemlich viel, bevor sie das Zimmer verlassen hat. Aber erst dann wurde ihr Stand vervollständigt.
Ok, was lernen wir von Jackson? Er lehrt uns, dass es Erfahrungen genauso sehr wie rationales Denken braucht, um sich weiterzubilden. Seine Wissenschaftlerin Mary hätte durch das Studieren aller Bücher der Welt nie wissen können, wie es sich anfühlt, etwas Rotes zu sehen. Das liegt daran, dass das kein faktisches Wissen ist. Es ist eine Erfahrung, ein Wissen, wie. Und erst wenn man das Wissen, dass, mit dem Wissen, wie, verbindet, erhält man ein umfassendes Bild der Welt.


Endstand

Gut, fassen wir kurz zusammen. Wir haben uns heute gefragt, ob das Reisen tatsächlich bildet. Denn auch wenn das alle sagen, ist nicht ganz klar, wieso die Reise selbst dabei so wichtig sein soll. Der Philosoph Klaus Kufeld sagt selbst, dass sie kein physisches Ziel hat. Egal, wo man hingeht: Man strebt die Bildung an, die man danach erfährt. Indem man die fremde Perspektive mit der eigenen verbindet. Und deswegen reist man auch ab: Man will sein eindimensionales Denken verlassen. Man lässt sich komplett fallen und geht in der neuen Kultur auf. Eine Tabula rasa: Man weiß nichts über diesen fremden Ort und kennt die Kultur nicht. Doch dann kehrt man, sobald man sie verstanden hat, reicher wieder zurück. Aber nicht auf die Weise, wie man denkt. Denn das Wissen aus der Fremde ist in der Heimat nicht direkt anwendbar. Was es aber tut ist, dem Geist eine gewisse Tiefe zu verschaffen, eine zweite Kategorie an Wissen. Einen anderen Winkel, aus dem man auf die Welt schauen kann. Aber muss man dazu wirklich reisen? Denn das könnte man auch durch das Lesen von Büchern erreichen. Wie es der Philosoph Immanuel Kant getan hat.
Dann haben wir uns die Frage gestellt, ob uns Erfahrungen überhaupt etwas bringen, oder ob es ausreicht, rational zu denken. Im Platondialog „Theaitetos“ sagt Theaitetos selbst, eigentlich wären nur die subjektiven Wahrnehmungen der einzelnen Menschen wirklich wahr. Und da sich diese Wahrnehmungen sehr stark voneinander unterscheiden, gibt es keine objektive Wahrheit. Eine Reise wäre hier also unbedingt nötig, weil man sonst gar keine Wahrheit über die Welt erfahren kann. Egal, welches Buch man liest: Es wurde immer von einer Person geschrieben, die ihre eigene subjektive Meinung festhält. Mit dieser Wahrheit kann man aber nichts anfangen, denn es ist nicht die eigene. Nur Erfahrungen bilden einen weiter. Das ist die Position des Protagoras. Doch Platon ist nicht dieser Meinung. Er lässt Sokrates sagen, dass es durchaus eine objektive Wahrheit gibt. Denn selbst wenn sich gewisse subjektive Eindrücke unterscheiden, gibt es gewisse Dinge, die für alle Menschen feststehen. Und damit kann nur das die eigentliche Wahrheit sein. Alle Wahrnehmungen entsprechen dem dann entweder und sind wahr, oder sie sind falsch. Eine Reise ist damit eher unproduktiv, um die andere Kultur zu verstehen: Denn man geht mit den eigenen Sinnesorganen ran, die einen täuschen können. Sicherer ist es, rational Informationen darüber herauszufinden und Wissen anzusammeln. Von daher braucht es für eine umfassende Bildung keine Reise. Nun und dann hatten wir den Philosophen Frank Jackson, der einen Kompromiss zwischen Protagoras und Platon geschaffen hat. Er sagt: Eine Person kann lernen, und lernen, wie sie will. Es gibt einfach einige Dinge, die man erfahren haben muss, um sie zu verstehen. Das sind nicht alle Sachen auf der Welt. Natürlich kommt man durch objektive Fakten sehr weit. Aber eine umfassende Bildung kann man ohne die subjektive Perspektive nicht erreichen.


Konklusion

Und damit können wir zu einer Konklusion kommen. Es gibt also wohl tatsächlich Dinge, die man nicht nur durch reine Logik herausfinden kann. Manche Sachen muss man wohl erfahren, um sie genau zu verstehen. Natürlich geht das nicht bei allen Dingen auf der Welt. Über einige Dinge muss man eben in einer Distanz reden, weil man sie nicht tun kann. Doch gegen eine Reise spricht nichts. Denn natürlich kann man ein Kant sein, der mehr oder weniger authentische Berichte schreibt und da sehr passioniert ist. Aber eine wirkliche Garantie, die andere Kultur zu durchdringen, hat man erst, wenn man einmal dort war. Wenn man einmal ein Teil davon war. Wenn man sich als Tabula rasa von dem fremden Wissen hat füllen lassen. Es gibt objektive Wahrheiten, wie Platon sagt. Aber ein subjektiver Eindruck gibt einem manchmal dennoch etwas dazu. Und damit ist eine Reise tatsächlich zielführend, wenn man danach gebildeter sein will. Sie mag kein physisches Ziel haben, weil sie ein ständiger Weg ist. Aber wenn man nur offen genug herangeht, kann man trotzdem von ihr profitieren. Und dann kehrt man als Mensch mit einer erweiterten Perspektive nach Hause zurück. Als jemand mit einem etwas tieferen Geist, weil er einmal aus einem anderen Winkel gedacht hat. Und ich denke, dass ich genau an diesem Prozess teilhaben durfte.

Und das war meine Folge über das Reisen. Die letzte Folge, die ich hier in Granada aufnehmen werde. Vielen Dank für all euren Support bis heute. Ob ihr nun auf Spotify, Apple Podcasts, Youtube, Amazon Music, Deezer, Audible, Castbox, Google Podcasts, Overcast, Pocket Casts, Radio Public oder Stitcher zuhört. Ob ihr aus Europa, Nordamerika, Südamerika, Afrika, Asien oder Australien seid. Und ob ihr seit der ersten Folge, seit zwischendurch oder auch seit jetzt dabei seid: Ich freue mich, dass ihr euch für meine Ansätze interessiert und mir zuhört. Es bedeutet mir sehr viel. Ihr werdet bald wieder von mir hören!

Lasst gern einen Kommentar da, was ihr denkt! Wenn ihr übrigens gerne die Blogbeiträge in Audioform hören, mich erreichen oder mir vielleicht sogar eine kleine Spende dalassen wollt, findet ihr alle Links dazu in meinem Linktree.

Und das wars. Macht es gut Leute, einen schönen Tag euch noch!


Quellen

,,Die Reise als Utopie" - Klaus Kufeld

,,Theaitetos" - Platon

,,What Mary didn't know" - Frank Jackson

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